Wusstest du, dass Stress Marienkäfer zu Kannibalen macht? Oder dass Hunger Käfer schrumpfen lässt? Insekten haben ein unglaubliches Stressmanagement – und das ist unserem viel ähnlicher, als du denkst!
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Stress ist nicht nur ein menschliches Problem
Kennen du das auch? Die berühmte „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion?
Wenn das Herz schneller schlägt, die Muskeln auf Hochtouren laufen, und man das Gefühl hat, gleich losrennen oder sich verteidigen zu müssen?
Genau das passiert, wenn unser Körper Stress empfindet. Spannend wird es aber, wenn wir uns die Frage stellen: Wie sieht das eigentlich bei Insekten aus?
Im Gegensatz zu Pflanzen oder Mikroben haben Insekten – wie wir – ein zentrales Nervensystem. Allerdings ist es anders organisiert: Es besteht aus einem Strickleiternervensystem mit Ganglien entlang der Körperachse. Das bedeutet, ihre Stressreaktion ist unserer verblüffend ähnlich. Während bei uns eine potenzielle Bedrohung von unseren Augen, Ohren und anderen Sinnesorganen wahrgenommen und direkt ans Gehirn, genauer gesagt an die Amygdala, weitergeleitet wird, läuft das bei Insekten über ihre sensorischen Rezeptoren. Die Amygdala – unser Bewertungszentrum – gibt dann den Befehl an den Hypothalamus, eine richtige Hormon-Feuerwerkskaskade zu starten.
Eines dieser Hormone ist das berühmte Cortisol, auch als Stresshormon bekannt. Es sorgt dafür, dass der Blutzuckerspiegel steigt – ein Energieschub für die Muskeln. Gleichzeitig wird Adrenalin ausgeschüttet, oder, wissenschaftlich korrekt, Epinephrin. Und dieses Adrenalin treibt unser Herz an, pumpt Blut in die wichtigen Regionen, und sorgt dafür, dass wir in Sekundenbruchteilen flüchten oder kämpfen können. Kurz gesagt: Stress macht uns handlungsfähig.
Jetzt fragst Du dich vielleicht: Aber was hat das alles mit Insekten zu tun?
Insekten haben zwar weder eine Amygdala noch einen Hypothalamus, doch dafür übernehmen bei ihnen neurochemische Mechanismen in ihrem Strickleiternervensystem diese Funktion. Statt Adrenalin nutzen sie Octopamin, ein Neurohormon, das ähnliche Wirkungen hat, aber zusätzlich auch die Koordination von Bewegungen und das Lernverhalten beeinflusst. Es schärft ihre Sinne, bereitet ihre Muskeln vor, und – wenn es darauf ankommt – aktiviert es genau das gleiche Prinzip: Überleben um jeden Preis.
Wie misst man Stress bei Insekten?
Doch woher weiß man das? Wie misst man, ob das Insekt gestresst ist oder nicht? Fragt man ein Insekt, sagt es uns ja nicht, wie es ihm geht.
Doch die Antwort ist eigentlich ganz simpel:
Insekten sind ebenso lebende und atmende Organismen und ihre physiologische Grundlage ist unserer verblüffend ähnlich. Also setzt man sie kontrollierten Stressfaktoren aus, die auch uns Stressen würden und beobachtet, was passiert. Das kann zum Beispiel Hitze oder Kälte sein oder eben Hunger.
Wenn man Hunger hat, ist man ein anderer Mensch.
Hunger führt zu, sagen wir mal, faszinierenden Verhaltensänderungen. Aber nicht nur bei uns Menschen ist das so.
Wenn Hunger zur Strategie wird
Kannibalismus, eine schnellere Entwicklung hin zum Puppenstadium oder in die Diapause, eine geringere Eierproduktion und eine Migration, – das alles sind Strategien, mit denen sich Insekten an das harte Diktat des Hungers anpassen.
Nehmen wir zum Beispiel die Larven des asiatischen Marienkäfers Harmonia axyridis. Sobald die Nahrung knapp wird, beginnt ein Überlebenskampf, bei dem auch die eigenen Artgenossen nicht sicher sind – Kannibalismus wird zur Überlebensstrategie. Das ist evolutionär gesehen gar nicht so unklug: Somit überleben zumindest die stärksten Individuen, bevor alle verhungern.
Doch der Hunger wirkt nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf die Physiologie. Besonders spannend ist, was dabei auf hormoneller Ebene passiert. Hunger treibt den Spiegel von Ecdyson und dem Juvenilhormon, zwei zentrale Hormon in der Insektenentwicklung, nach oben. Das bedeutet: Die Larven entwickeln sich schneller in das Puppenstadium. Denn die Puppe ist eine unglaublich robuste Lebensform. Sie kann ohne Nahrung erstaunlich lange durchhalten und widrige Umweltbedingungen überstehen.
Die Larven des Hirschkäfers, der hierzulande relativ selten geworden ist, verpuppt sich früher, wenn die Nahrung knapp wird. Somit kann die Entwicklung bereits nach wenigen Jahren, statt wie üblich, erst nach 7 Jahren abgeschlossen sein. Doch die Folge: Die geschlüpften Käfer sind mit knapp 3,5 cm deutlich kleiner als ihre Artgenossen, die unter optimalen Bedingungen heranwachsen und mehr als 8 cm erreichen.
Dieser Mechanismus tritt aber nicht bei allen Insekten auf. Einige Arten verlängern sogar ihre Entwicklungszeit, um bessere Bedingungen abzuwarten.
Zu wenig Nahrung begrenz allerdings auch die Vermehrung von Insekten. Ein typischer Überlebensmechanismus, nicht nur bei Gliedertieren.
So reduziert bspw. Arma chinensis, eine Wanzenart aus der Familie der Baumwanzen, die Anzahl der gelegten Eier und auch die Schlupfrate sinkt deutlich. Evolutionär ergibt das auch vollkommen Sinn. Denn so wird die Populationsgröße beschränkt und sichergestellt, dass die bestehende Population ausreichend Nahrung findet.
Hungerstress zeigt sich besonders eindrücklich in der Anpassung der Flugfähigkeit von Insekten. Käfer, die von Nahrungsknappheit betroffen sind, können etwa ihre Schnelligkeit nicht aufrechterhalten. Doch selbst unter diesen schwierigen Bedingungen setzen viele Arten auf Wanderbewegungen, um neue Habitate und Nahrungsquellen zu finden – ein Überlebensmechanismus, der trotz seiner energetischen Kosten unerlässlich ist.
Ein Beispiel hierfür ist der Admiral, ein Schmetterling, der im Herbst die kommenden harschen Bedingungen des Winters umgeht, in dem er wandert. Trotz dieser Belastungen migriert er über beeindruckende Strecken, sogar über die Alpen bis er in wärmeren Regionen angekommen ist.
Nach dem hiesigen Ende der niedrigen Temperaturen und der Nahrungsknappheit kehren die Arten dann wieder zu uns in ihre Sommerhabitate zurück. Ähnlich wie es Zugvögel auch tun.
Wanderbewegungen sind also eine gute Stressreaktion, um selbst unter extremen Bedingungen zu überleben.
Stress durch Fressfeinde
Einen völlig anderen Stress stellen Raubtiere dar. Während Insekten die dominierende Tiergruppe auf der Erde sind und eine zentrale Rolle in zahlreichen terrestrischen Ökosystemen spielen, sind sie gleichzeitig eine essenzielle Nahrungsquelle für viele Tiere – von Vögeln über Amphibien bis hin zu Säugetieren.
Obwohl Insekten eine außerordentliche Vielfalt an verhaltensmäßigen und physiologischen Reaktionen gegen Raubtiere entwickelt haben, wurde der durch Raubtiere verursachte Stress bei Insekten noch nicht umfassend erforscht. Man geht heute davon aus, dass das Stressreaktionssystem, ähnlich wie der Schlaf, bei Wirbel- und wirbellosen Tieren einen gemeinsamen Ursprung hat und es damit Ähnlichkeiten zwischen dem System der Insekten und unserem geben könnte. Dennoch gibt es Unterschiede.
Wenn Säugetiere unter Stress geraten, wird Adrenalin ausgeschüttet, um schnell die Flucht zu ergreifen oder in den Angriff zu gehen. Beispielsweise kann ein Reh beim Anblick eines Raubtieres Adrenalin ausschütten, was seine Muskeln sofort auf Höchstleistung bringt und eine schnelle Flucht ermöglicht.
Ähnlich verhält es sich auch bei Insekten. Augen, Fühler oder andere Sinnesorgane alarmieren das Gehirn, dass Gefahr droht. Stresshormone wie Octopamin, dass unserem Adrenalin ähnlich ist, und Ecdysteroide werden ausgeschüttet. Das passiert bei allen Insektenarten, wobei natürlich die Stärke und der Zeitpunkt je nach Art und Situation abhängen. Doch genau wie bei Säugetieren, hilft der Hormonfluss dem Insekt mit dem fertig zu werden, was es stresst. Beispielsweise in dem es wegfliegt.
Ein weiteres Schlüsselhormon sind sogenannte adipokinetische Hormone, die bei der Energiebereitstellung eine zentrale Rolle spielen. Sie sorgen für die Mobilisierung von Fett- und Kohlenhydratspeichern, um Insekten eine schnelle Flucht zu ermöglichen. Auch Neurotransmitter wie Dopamin tragen zur Bewegungskoordination in Stresssituationen bei. Ihre blitzschnelle Wirkung ist für Insekten oft überlebenswichtig, da jede Millisekunde über Leben und Tod entscheiden kann.
Insekten zeigen eine breite Palette von Verhaltensanpassungen als Reaktion auf Stress durch Raubtiere. Angefangen von verbesserten Flug– und Bewegungsabläufen als Reaktion auf akuten Stress, bis hin zu proaktiver Mimikry und Mimese zur Vermeidung von Stress. Somit hat Stress eine wichtige evolutionäre Aufgabe. Er sichert das Überleben und erhöht somit die sogenannte Fitness einzelner Individuen, was wiederum eine langfristige Anpassung an die Stressoren und die Entstehung neuer Arten vorantreibt.
Stress als evolutionärer Motor
Man sieht also, dass auch das Leben von Insekten von Stress geprägt ist, und das hat schon seit Jahrmillionen zu neuen Innovationen im Insektenreich geführt. Doch heutzutage sorgt auch der Mensch für eine ganze Reihe an Stressoren, die den Insekten zusätzlich zusetzen. Pestizide, Habitatverlust und in Teilen auch der Klimawandel setzen die Tiere neben den natürlichen Bedrohungen gewaltig unter Druck. Auch wenn Insekten enorm anpassungsfähig sein können und dies schon an vielen Beispielen bewiesen haben, erfordern solche Veränderungen Zeit – Zeit, die die meisten Insekten- und andere Tierarten nicht haben.
Was kann man also tun, um den Stress der Insekten zu reduzieren?
Bereits kleine Schritte wie das Pflanzen von Wildblumen oder -kräutern, der Verzicht auf Pestizide im Garten oder das Schaffen von Unterschlupfen können dazu beitragen, Insekten ein stressfreieres Leben zu ermöglichen und gleichzeitig die Artenvielfalt zu fördern.
Das kann aber nur im kleinen helfen. Gefragt sind hier aber auch Strukturen in urbanen Bereichen wie Parks und die Land- und Forstwirtschaft.